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Über die Würde

Helene Susanne Grohma                                                                             Baustück, 13. 10. 6022

Über die Würde

Fangen wir mit dem Ende an: „Asche zu Asche“.

So spricht der Pfarrer am offen Grab: “Erde zu Erde, Asche zu Asche, Staub zu Staub“.

So nennt sich aber auch die Firma eines australischen Pyrotechnikers. Er bietet Interessenten an, die Asche ihrer verstorbenen Lieben mit Feuerwerksraketen in den nächtlichen Himmel zu schießen – wie zu Silvester- was nur 4000 australische Dollar kosten soll. Der Firmeninhaber hat diese Explosiv- Beerdigung erfolgreich getestet: mit der Asche seines toten Hundes.

Publik wird das Internetangebot im November 2012, kurz vor Allerseelen:
WÜRDIG?

Das Ende des berühmten Würde-Denkers Marcus Tullius Cicero war extrem unwürdig:
Die Mörder schleiften den Leichnam durch Roms Straßen und stellten den abgetrennten Kopf sowie die Hände auf dem Forum Romanum aus. Fulvia, die Ehefrau des Antonius, hasste den ätzenden Redner Cicero besonders: sie soll dem Toten bei dieser Gelegenheit mit einer Haarnadel die Zunge durchstochen haben.

Der Begriff „Würde“ ist in aller Munde:
Große Fußballspieler verabschiedet man mit Stil und Würde in den Ruhestand,
Politiker verletzen die Würde ihres Amtes,
viele genießen die Würdelosigkeit von TV Shows,
die Würde des Menschen ist unantastbar,
das wissen wir sowieso.

Was die Würde des päpstlichen Amtes betrifft, so sei an Papst Johannes Paul den Ersten erinnert: als er 1978 nach nur 33 Tagen im Amt stirbt und es allerlei Gerüchte über die Todesursache gibt – angeblich plante er radikale Reformen -, beschließt der Vatikan, auf eine Obduktion des Leichnams zu verzichten. Begründung: Obduktionen widersprechen der Würde eines Papstes.

Je häufiger der Begriff Würde hochgehoben wird, desto mehr drängt sich uns der Verdacht auf, dass mit diesem Begriff Gemeinte könnte für immer bald verloren sein, vergessen, verschwendet, verkauft, verkannt von jenen, die dessen wahren Sinn verteidigen wollen. Doch was ist Würde?

Der FAZ- und SPIEGEL-Autor Matthias Schreiber meint dazu:“ Würde ist zugleich gedachter und empfundener Begriff. Ob wir die betreffende Empfindung Hochachtung, Respekt, Ehrerbietung, Staunen, Bewunderung oder gar Liebe nennen, ist definitorisch kaum zu fassen. Der Begriff der Würde hat einen definitiven Sinn, umfasst aber auch so vage Phänomene wie Anmutung der körperlichen Haltung eines Menschen, seine Stimme, seinen Umgangston, sein Verhalten in schwierigen Situationen, ja sogar seiner Kleidung.“

Wahr ist zunächst einmal: Der Mensch hat eine angeborene Würde, die sich aus einer bestimmten Gestaltung seines Lebens ergibt – bedingt durch Zufall oder Tüchtigkeit. Menschen mit zwergenhafter Statur, Menschen mit Behinderungen, Menschen aus schwierigen sozialen Verhältnissen haben es gewiss schwerer, gemäß einem gewissen Würde-Ideal zu leben und aufzutreten, und doch haben sie ihre eigene Würde, die mehr ist als Stolz oder eine unbestimmte Trotzhaltung: die humane Würde einer Gesellschaft erweist sich gerade dadurch, wie sie benachteiligten Menschen begegnet.

Die französische Filmkomödie“ Ziemlich beste Freunde“, nach einer wahren Geschichte, zeigt anhand der ungewöhnlichen Verbindung zwischen einem sehr vermögenden Querschnittsgelähmten im Rollstuhl und seinem mittellosen Pfleger, Ex-Häftling aus schwierigstem Milieu, dass der würdige Umgang mit Behinderten (Menschen mit besonderen Bedürfnissen) mehr braucht als die Perspektive des fürsorglichen Samariters. Der Protagonist des Films ist glücklich, dass sein Pfleger ihm schon bei der ersten Begegnung nicht mit triefendem Mitleid den Rollstuhl schiebt, sondern etwas frech ist, auf gleicher Augenhöhe kommuniziert und sogar Scherze über die grotesken Aspekte seiner Behinderung riskiert.

Sprachgeschichtlich wurzelt das Wort“ Würde“ im althochdeutschen „ wirdi“ und später im mittelhochdeutschen „wirde oder werde“. Es bedeutet Wert, wertvolle Beschaffenheit, Ansehen, Herrlichkeit, Ehre. Der Duden erläutert:

  1. a.  achtunggebietender Wert, der einem Menschen innewohnt, und die ihm deswegen zukommende Bedeutung

b.  Bewußtsein des eigenen Wertes und dadurch bestimmte Haltung

c.  hohe, achtunggebietende Erhabenheit einer Sache, besonders einer Institution

  • mit Titeln, bestimmten Ehren, hohem Ansehen verbundenes Amt, verbundener Rang, verbundene Stellung

Der würdige Bürger der Antike – vergessen wir einmal die Sklaven – benimmt sich weder herablassend noch anbiedernd, weder dummstolz noch unterwürfig, er zeigt sich gelassen angesichts von Ehrungen oder Kränkungen, diskret im Persönlichen, aufrichtig und weltoffen, maßvoll in seinen Bewegungen und Neigungen, kontrolliert und ausgeglichen in der Art zu reden sowie von angenehm mittlerer Statur. So charakterisiert der griechische Philosoph Aristoteles in seiner „Nikomachischen Ethik“ den „hochsinnigen Menschen“.

Der Erste, der nach Aristoteles den Hochgesinnten einen „Würdigen“ nennt, ist der eingangs erwähnte römische Senator und Meisterredner Cicero. Seine Würde-Thesen finden wir vor allem in den Schriften „Vom pflichtgemäßen Handeln (de officiis), und vom „Vom Gemeinwesen (de re publica). Der Autor ist Stoiker und betrachtet den Kosmos als eine Ordnung, die von einer göttlichen Weltvernunft beherrscht wird. Die gemeinsame Würde der Menschen rührt nun daher, dass „wir alle teilhaftig sind der Vernunft und des Vorzugs, durch den wir uns auszeichnen vor den Tieren“, wovon auch „alles Ehrenhafte und Schickliche hergeleitet“ wird, das zum pflichtgemäßen Handeln gehört. „Wenn“, so resümiert Cicero, „wir bedenken wollen, eine wie überlegene Stellung und Würde (dignitas) in unserem Wesen liegt, dann werden wir einsehen, wie schändlich es ist, in Genusssucht sich treiben zu lassen, verzärtelt und weichlich, und wie ehrenhaft andererseits, sparsam, enthaltsam, streng und nüchtern zu leben.“

Als Inbegriff der menschlichen Sonderstellung in der Natur wird die Würde zwar von Cicero ausdrücklich und wiederholt erörtert, dennoch spielt der Begriff in der Antike nicht annähernd die Rolle, die ihm seit der Renaissance in Mitteleuropa mehr und mehr zuwächst. Der wichtigste Vermittler auf diesem langen Weg ist das Christentum mit seiner Schöpfungsgeschichte und seiner Gewissenskultur.

Die frühen Kirchenväter übernahmen die griechischen und jüdisch-christlichen Vorlagen im Wesentlichen und trennten zugleich deutlicher die “wahre“ Würde von der Würde, die durch das äußere Erscheinungsbild, den Geburtsadel oder die gesellschaftliche Stellung des Menschen begründet ist. Die eigentliche Würde sei kein Ruhmestitel und kein Familienerbe, auch nicht irgendeine Amtswürde, sondern das kreatürliche Privileg, Gottes Ebenbild zu sein.

Die Überzeugung von der dem Menschen „wesenseigener“ Würde, wird von einigen Vertretern der Kirche unterschiedlich beschrieben: Augustinus meint, selbst eine sündige Seele sei noch w ü r d i g e r als der edelste menschliche Körper. Andere Kirchengelehrte betonen die Würde des Körpers unter dem Gesichtspunkt, er sei immerhin das angemessene Gefäß für eine unsterbliche Seele.

In der Renaissance verblasst dieser Gottesbezug der edlen Menschlichkeit.

Giovanni Pico (Rede über die Würde des Menschen), oder Gannozzo Manetti (über die Würde und Exzellenz des Menschen) stellen die Freiheit des einzelnen Menschen zur autonomen Lebensgestaltung in den Vordergrund.

Im 18. Jahrhundert bekommen wir durch Kants Kategorischen Imperativ den Inbegriff jener menschlichen Würde, die das moralische Handeln auszeichnet. Kant erobert den Begriff der Würde, der jahrhundertelang nur an die Idee der individuellen Selbstbestimmung eines vernunftbegabten Wesens gebunden war; entscheidend ist die Spannung zwischen Freiheit und sozialer Selbstverpflichtung, Selbstbestimmung und Gesetzestreue, die ihn bis heute auszeichnet. Selbstverwirklichung in Form eines „Ego Trips“ hat eben keine Würde, mag sie auch in einer Gesellschaft, die auf Individualisierung aller Menschen setzt als moderne Norm gelten.

Friedrich Schiller, der dichtende Denker, hat mit seinem Gedicht die „Würde der Frauen“ so mancher feministischen Idee unserer Jahre vorgegriffen, indem er uns Frauen eine besondere Kompetenz für das Zepter der Sitte und des Friedens zugesprochen hat…

Ehret die Frauen! Sie flechten und weben
himmlische Rosen ins irdische Leben,

flechten der Liebe beglückendes Band,

sicher in ihren bewahrenden Händen

ruht, was die Männer mit Leichtsinn verschwenden,

ruhet der Menschheit geheiligtes Pfand.

Ewig aus der Wahrheit Schranken

schweift des Mannes wilde Kraft,
und die irren Tritte wanken

auf dem Meer der Leidenschaft.

Gierig greift er in die Ferne,
nimmer wird sein Herz gestillt,

rastlos durch entleg‘ne Sterne

jagt er seines Traumes Bild.

Aber mir zauberisch fesselndem Blicke

winken die Frauen den Flüchtling zurücke,

in der Mutter bescheidener Hütte

sind sie geblieben mit schamhafter Sitte,

treue Töchter der frommen Natur…

Schiller ist auch derjenige Autor, der in seinen Ausführungen: „Über Anmut und Würde“ (1793) sowie „Über die Erziehung des Menschen“ (1795) Kants grundsätzliche Vorgaben in essayistische Formen gegossen hat, die zum Besten jener Epoche der deutschen Klassik gehören.

Sein Aphorismus über die Würde ist prägend:

Nichts mehr davon, ich bitt Euch.
Zu essen gebt ihm, zu wohnen.
Habt ihr die Blöße bedeckt,
gibt sich die Würde von selbst.

Für den Philosophen Hegel (1770-1831) gibt es wieder einen interessanten Ansatz:

Für ihn findet der Einzelne seine Würde nicht als unmittelbarer Wille – etwa zu Macht und Ruhm -, sondern indem er sich freiwillig einem “Substanziellen unterwirft“: Dem Staat, verstanden als objektiver Geist. „Erst durch das Aufheben der natürlichen Unbändigkeit und durch das Wissen, dass ein Allgemeines, An-und-für-sich-Seiendes das Wahre sei, erhält er eine Würde, und dann ist das Leben etwas wert“, so Hegel in seinen „Vorlesungen über die Philosophie und Religion“.

Wenn also Politiker als Repräsentanten des Staates den einzelnen Bürger an persönliche, finanzielle oder andere Interessen verraten, wenn sie das Substantielle sozusagen privatisieren, handeln sie unwürdig. Ihre Amtswürde resultiert aus der Verpflichtung zur selbstlosen Amtsführung.

Der bekannte Gegenwartsphilosoph und Romancier Peter Bieri, geb. 1944 in Bern, hat die Würde ebenfalls zum Gegenstand seines Nachdankens gemacht. Er erforscht die Würde nicht als Recht oder als Eigenschaft, sondern als eine Art zu leben, so auch der Titel seines Buches.

Die Würde des Menschen, so der Autor, ist etwas Wichtiges und etwas, was nicht angetastet werden darf. Doch was ist es eigentlich? Wenn wir versuchen Klarheit zu gewinnen, können wir zwei verschiedene gedankliche Wege gehen. Der eine ist der Weg, auf dem wir Würde als Eigenschaft von Menschen auffassen – als etwas, was sie kraft der Tatsache besitzen, dass sie Menschen sind. Bieris Zugang, die Würde des Menschen zu verstehen, ist ein anderer Weg, nämlich Würde als Lebensform zu sehen.

An der Lebensform der Würde kann man drei Dimensionen unterscheiden, die eine ist die Art, wie ich von anderen Menschen behandelt werde. Ich kann von ihnen so behandelt werden, dass meine Würde gewahrt bleibt, und sie können mich so behandeln, dass meine Würde zerstört wird. Hier ist die Würde also etwas, über das andere bestimmen.

Die zweite Dimension betrifft wiederum die anderen Menschen, mit denen ich zusammenlebe. Doch dieses Mal geht es nicht darum, wie sie mich behandeln. Jetzt ist die Würde etwas, über das nicht andere bestimmen, sondern ich selbst. Die leitende Frage lautet: welche Muster des Tuns und Erlebens den anderen gegenüber führt zu der Erfahrung, dass ich mir meine Würde bewahre, und mit welchem Tun und Erleben verspiele ich sie?

Auch in der dritten Dimension bin ich es selber, der über meine Würde entscheidet. Es geht um die Art, wie ich zu mir selbst stehe.

Die Frage, die man sich stellen muss lautet: welche Art, mich selbst zu sehen, zu bewerten und zu behandeln gibt mir die Erfahrung der Würde? Und wann habe ich das Gefühl, meine Würde durch die Art und Weise zu verspielen, wie ich mich zu mir selbst verhalte? Die drei Dimensionen lassen sich für Bieri gedanklich klar trennen. In der Erfahrung gewahrter, beschädigter, oder verspielter Würde greifen sie ineinander.

Bieri beleuchtet Würde in ausgewählten Erscheinungsformen:

Würde als Selbssttändigkeit, als Begegnung, als Achtung vor Intimität, als Wahrhaftigkeit, als Selbstachtung, als moralische Integrität, als Sinn für das Wichtige und schließlich als Anerkennung der Endlichkeit.

Ich wählte von diesen, ohne Wertung, „Würde als Selbstständigkeit“, „Würde als Achtung vor Intimität“, „Würde als Begegnung“, sowie „Würde als Anerkennung der Endlichkeit“ aus, um seine Sicht darzustellen.

Würde als Selbstständigkeit:

Wie wollen über unser Leben selbst bestimmen. Wir wollen selbst entscheiden können, was wir tun und lassen. Wir möchten nicht auf andere angewiesen sein. Wie möchten unabhängig und selbstständig sein. All diese Worte beschreiben ein elementares Bedürfnis, es ist der innere Kompass unseres Lebens. Wir sind sicher, in dieser Selbstständigkeit liegt die Würde begründet.

Aber wir sind nicht alleine und können nicht alles alleine machen. Wir hängen auf vielfältige Weise von anderen ab und sie von uns. Wir sind auf sie angewiesen. Was davon schafft natürliche Beziehungen, ohne die wir nicht sein möchten, und was davon erleben wir als Abhängigkeit die unsere Würde bedroht.

Jeder von uns ist ein Zentrum des Erlebens. Ein Wesen mit Bewusstsein, ein Subjekt. Das Selbstbild, das wir als Subjekte haben, ist nicht nur ein Bild davon, wie wir sind, sondern auch eine Vorstellung davon, wie wir sein möchten und sein sollten. Zu unseren Fähigkeiten, als Subjekten gehört das Vermögen, uns selbst bewertend zum Thema zu machen und uns zu fragen, ob wir mit unserem Tun und Erleben zufrieden sind. Dann machen wir etwas mit uns und für uns. Man könnte sagen, wir arbeiten an unserer seelischen Identität. Als Subjekte wollen wir nicht benutzt werden, das beschädigt unsere Würde.

Ein kleines Beispiel:
Auf einer Reise kam der Autor auf einem Jahrmarkt vorbei und sah dort etwas, was er nicht für möglich gehalten hätte: einen Wettbewerb im Werfen von Zwergen! Ein kräftiger Mann packte einen kleingewachsenen Menschen und schleuderte ihn so weit wie möglich auf eine weiche, federnde Matte. Der Geworfene trug eine gepolsterte Schutzkleidung mit Griffen und einen Helm. Die gaffende Menge klatschte und johlte bei jedem Wurf. Der weiteste Wurf war fast 4m. Er erfuhr, dass der Geworfene bei der Weltmeisterschaft im Zwergenwerfen dabei gewesen war. Denn das hatte es tatsächlich gegeben: eine Weltmeisterschaft im Schleudern von Menschen.

In Frankreich wurde die Praxis des Zwergenwurfes verboten, und die Kommission für Menschenrechte der UNO hatte eine Klage gegen diese Entscheidung abgewiesen. Die Begründung hatte gelautet: es gilt die Würde des Menschen zu schützen. Die spontane Reaktion des Autors auf dem Jahrmarkt war verständlich:“, Abstoßend, Unerträglich!!“
„Wieso“, entgegnet ein Zuschauer neben ihm gereizt, „niemand hat ihn dazu gezwungen, er bekommt einen Haufen Geld dafür und es ist ein Riesenspaß!“

Bieri :
Dem geworfenen Menschen wird die Würde genommen, weil außer Acht gelassen wird, dass er ein Subjekt ist. Dadurch wird er auf einen bloßen Gegenstand, auf ein Ding reduziert, und in dieser Verdinglichung liegt der Verlust der Würde.

Abends nach der Veranstaltung ergab sich folgender Dialog zwischen dem Star des Zwergenwurfes und dem Autor:

B:         Dass Sie das aushalten.
Z:         Kein Problem, man fällt weich.
B:         Das meine ich nicht, ich meine nicht die Gefahr.
Z:         Was dann?
B:         Die Würde.
Z:         Wovon reden Sie?
B:         Davon, dass man Sie beim Werfen als bloßen Gegenstand behandelt, als bloßes Ding
Z:         Manchmal wirft man Kinder. Die quietschen vor Vergnügen.
B:         Das ist etwas Anderes. Sie werden nicht als bloße Gegenstände behandelt, sondern       als Wesen, denen man ein Vergnügen bereitet. Es geht dabei um sie selbst, um         das      was sie erleben.
Z:         Ich will Ihnen mal was sagen: Wenn einer so aussieht wie ich, dann hat er es       verdammt schwer, sein Geld zu verdienen. Wer stellt schon einen Zwerg an. Und       noch etwas: Ich stelle mich der Show freiwillig zur Verfügung. Ich habe mich         entschieden, mich benutzen und begaffen zu lassen.
            Haben Sie von Manuel Wackenheim, dem französischen Zwerg gehört? Er ist bis vor      die UNO gezogen, um sich sein Recht, im Zirkus geworfen zu werden, zu erkämpfen.        Er hat verloren.
            Es verstoße gegen die Würde des Menschen, sagten die Richter.
            Ich frage Sie: „Und was ist mit der Würde, die in der Freiheit der Entscheidung liegt?“

In der Tat, will man dem Zwerg wirklich seinen Würdeanspruch nicht zubilligen, weil er der objektiven Menschenwürde widerspricht? Erringt die objektive Menschenwürde, wie immer sie auch definiert wird, ihre Siege um den Preis individuellen Würdebewusstseins? Kann es also ein menschenwürdiges Leben in menschenunwürdiger Umwelt nicht geben?

Viktor E. Frankl meint in anderem Zusammenhang: Bewusstsein und Anspruch eigener Würde ließen den Einzelnen auch in unmenschlichen Lagen trotzdem „JA“ zum Leben sagen.

Würde als Achtung vor Intimität:

Jemand kann seine Würde verspielen, indem er Intimes ohne Not preisgibt, und in roher Form, ohne gedankliche Bearbeitung an die Öffentlichkeit bringt, also vor Leute, die sonst nichts mit ihm und seinem Leben zu tun haben. Es gibt keinen Grund aus einer Begegnung heraus, es ist eine Entblößung vor wildfremden Menschen. Der Schutzwall um das eigene Erleben wird eigenhändig weggesprengt, und die grellen Lampen gehen an.

Das kann auf einer Party geschehen, in die man hineingestolpert ist, und vielleicht zu viel getrunken hat. Oder jemand breitet seine intimsten Gedanken, Gefühle oder Obsessionen vor laufenden Fernsehkameras aus, vor voyeuristischen Journalisten und Fotografen der Boulevardpresse. Ganz zu schweigen von den sozialen Netzen des Internets.

Es kommen verborgene Ängste und Hoffnungen ans Licht, religiöse Überzeugungen, skurrile Gewohnheiten und geschmackliche Neigungen. Auch Symptome von Krankheit und Zerfall, werden auf diese Weise den neugierigen, sensationslüsternen Blicken eines anonymen Publikums dargeboten.

Wenn wir unbedacht in so etwas hineingestolpert sind, kann es geschehen, dass wir daraus aufwachen wie aus einem bösen Traum. Was habe ich da mit mir machen lassen, was habe ich da nur gemacht? Es kann eine Verstörung bedeuten, die lange anhält. Wir erleben einen Verlust, und wenn wir ihn benennen müssten, würden wir sagen: Es ist ein Verlust der Würde, kein anderes Wort trifft es. Es ist ein Beispiel, dass der Begriff der Würde unverzichtbar ist.

Aber es kann auch geschehen, dass man sich mit seinen verborgensten Empfindungen vor der Öffentlichkeit zeigt und dass die eigene Würde gerade in einer solchen Offenbarung liegt. Man kann sich das vor Gericht vorstellen: Ich zeige mich in meiner Verletztheit, meinem Schmerz, und meinem Hass, der mich zu der Tat getrieben hat.

Oder am Grab: Ich lasse zu, dass jeder in meinen Tränen meine Erschütterung, meine Trauer und meine Verlassenheit sieht. Oder auch in einer politischen Rede, in der sich meine Wut und Empörung über Demütigung, Unterdrückung und Ungerechtigkeit Bahn brechen. Die Situation hat es herausgefordert, und jetzt schreie ich die Empfindung heraus. Ohne es geplant zu haben, zeige ich mich, wie man mich sonst nicht gekannt hat. Während ich mich zeige, spüre ich, meine Würde liegt in diesem Augenblick darin, mich nicht länger zu verstecken.

Würde als Begegnung:

„Reden Sie MIT mir!“

Man kann jemanden missachten und in seine Würde beschädigen, wenn man über ihn redet, statt zu ihm. Die Begegnung wird verweigert. Ein kleines Beispiel:

„Ist das die Leberzirrhose?“, fragt der Chefarzt die Assistentin als er grußlos an mein Bett tritt.

„Pankreas“, sagt die Assistentin.

Der Chefarzt beugt sich über die Krankenakte in ihrer Hand, seine Wange streift ihr Haar.

„Liegt schon ziemlich lange.“

„Wann kann ich nach Hause?“, frage ich den Chefarzt.

„Es ist noch nicht so weit“, sagt der Chefarzt zur Assistentin, den Blick in der Akte.

„Was ist denn los mit mir?“, frage ich.

„Wir müssen ihn noch einige Zeit beobachten“, sagt der Chefarzt zur Assistentin.

„Herr Professor Müller, ich möchte wissen, was mit mir los ist?“, sage ich ärgerlich.

„Ein komplizierter Fall“, sagt der Professor, mit Blick in die Krankenakte.

„Verdammt, reden sie mit mir!“, schreie ich. „Reden sie mit mir, reden sie mit mir!!“.

„Warum sind diese Patienten nur so ungeduldig?“, sagt der Professor, schüttelt den Kopf und tauscht ein Lächeln mit der Assistentin.

Da werfe ich ein Wasserglas nach ihm, es knallt gegen die Wand. Der Chefarzt nimmt den Arm der Assistentin.

„Nicht beachten. Wie wär`s mit einem Kaffee?“

Würde als Anerkennung der Endlichkeit

Durch Alter oder Krankheit kann es dazu kommen, dass wir unsere Selbstständigkeit als Subjekte verlieren. Es ist ein Prozess des langsamen Verfalls. Am Ende sind wir auch keine Partner von Begegnungen mehr, wir werden einsam, weil wir nicht mehr wissen, wie das geht, jemandem begegnen. Wir haben den Sinn für Intimität und Nähe verloren. Durch beides, die verlorene Selbstständigkeit und die verlorenen Begegnungen, gerät die Würde in Gefahr.

Was können wir uns vornehmen, um die Würde von Menschen, die sich verloren haben, zu verteidigen? Wir dürfen sie nie ganz abschreiben und dürfen ihnen nicht das Gefühl geben, dass wir sie nicht mehr als Person wahrnehmen. Dazu eine kleine Geschichte von Bieri:

Als ich eines Tages meine Tante im Pflegeheim besuchte, traf ich dort meinen Lateinprofessor, bei dem ich studiert hatte. Er war vor wenigen Tagen eingezogen, und man konnte sehen, warum. Er war wackelig auf den Beinen, musste sich wegen Schwindels oft festhalten und seine Hände zitterten heftig.

„Es ging zu Hause nicht mehr, ich habe alle hinuntergeschubst, Berge von Scherben. Und jetzt? Ja, jetzt bin ich hier.“

Ich musste weiter und schüttelte seine knochige, zitternde Hand.

Einen Monat später ging ich wieder hin, er war nicht mehr da. Zwei Tage nach meinem Besuch hatte man das Zimmer am Morgen leer gefunden. Er war bei Nacht und Nebel getürmt. Nach Athen. Seine Schwester kannte die Adresse. Ich weiß nicht warum, ich fuhr hin. Einzimmerwohnung zum Hinterhof, Kochnische mit Scherben am Boden, Sprachbücher für Neugriechisch.

„Es war diese Begebenheit“, sagte er. „Halb sechs am Nachmittag, ein heißer, heller Sommertag. Die Türe zum Nachbarzimmer stand offen, so dass ich sehen und hören konnte. Eine Schwester hatte einen Mann mit Katheter ins Bett gebracht.

‚Und jetzt nehmen wir noch ein weißes, putziges Kügelchen zum Schlafen‘, sagte sie.

Das Wasserglas schlug gegen seine Zähne. Dann ließ sie die Jalousie herunter bis es dunkel war.

‚Warum stecken Sie einen erwachsenen Mann um diese Zeit ins Bett und betäuben ihn, damit er schläft?‘. Ich erstickte fast an meiner Wut.

‚Schichtwechsel‘, sagte sie, ‚ich habe jetzt Feierabend.‘

Da wusste ich, hier würde ich nicht bleiben. Nicht an einem Ort, an dem man die alten und verlorenen Menschen einfach nur verwaltete. Wo die Zeit des Dienstplanes die einzige Zeit war, die zählte, und wo man nicht einmal mehr daran dachte, dass jeder, der dort lebt, seine eigene Zeit lebt und beanspruchen kann, dass man sie ihm lässt. Verstehst Du?“.

Er hatte mich früher nie geduzt. Es war ein kostbarer Moment. Später gingen wir in die Taverne. Ab und zu musste er sich festhalten. Es gab dort andere Männer mit zitternden Händen. Hin und wieder kehrte der Wirt Scherben zusammen.

„Hier bleibe ich jetzt“, sagte mein greiser Lehrer, „Hier, in Athen.“

Ich nickte. Einige Monate später rief mich seine Schwester an. Er war von einem Bus überfahren worden. Ein Unfall, hieß es.

Oder hat er selbstbestimmt, im Interesse seiner individuellen Würde gehandelt?

Unser Leben als denkende, erlebende und handelnde Wesen ist zerbrechlich und stets gefährdet – von außen wie von innen. Die Lebensform der Würde ist ein Versuch, diese Gefährdung in Schach zu halten. Es gilt, unser stets gefährdetes Leben selbstbewusst zu bestehen. Es kommt darauf an, sich von erlittenen Dingen nicht nur fortreißen zu lassen, sondern ihnen mit einer bestimmten Haltung zu begegnen.

Schlusswort

„Es scheint jedenfalls dringend erforderlich, den Begriff Menschenwürde immer wieder ins Gespräch zu bringen, ihn zu hinterfragen und neu zu definieren, um ihn dadurch mehr als bisher zu verinnerlichen und anzuwenden. Auch ein Bekenntnis zum Humanismus kann zu einer stärkeren Beachtung der Menschenwürde beitragen, denn seine Definition lautet sehr konkret: Humanismus ist ein Denken und Handeln das sich an der Würde des Menschen orientiert und dem Ziel menschenwürdiger Lebensverhältnisse dient.“
Rudolf Kuhr (Philosoph und Publizist)