Eigennutz und Gemeinwohl

Sollten dem Individualismus Grenzen gesetzt werden?

Welche Fürsorgepflichten treffen den Staat für die Gesundheit seiner Bürger? Gibt es (rechtliche) Grenzen für staatliche (Gesundheits-)vorsorgemaßnahmen?“

„Das Schicksal des Menschen ist der Mensch“ (B. Brecht „Die Mutter“)

Es haben schon sehr viele, sehr gescheite Menschen dieses Thema analysiert, diskutiert, darüber doziert und kommentiert. Daher probiere ich heute ein Resümee zu ziehen und werde einige Fragen in den Raum stellen, die wir in „break-out-sessions“ diskutieren können. Freilich war das allgegenwärtige Thema „Corona-Pandemie“ mit all den dazugehörenden Einschränkungen der Grundrechte, sowie die emotional geführten Impfdebatten, Auslöser meiner Gedanken und Fragen. Gestern hat uns Schwester Erna den „Eckstein“ weitergeleitet, und ich habe darin eine hervorragende Analyse mit dem Titel „Die gekränkte Gesellschaft – in Sachen Corona kommt es nicht darauf an, was die Dinge mit uns, sondern was wir mit den Dingen machen“ von Konrad Paul Liessmann gefunden. Eigentlich sollte ich nun diesen Impulsvortrag beenden und auf eben jenen Artikel verweisen, denn besser und trefflicher kann ich es sicher nicht sagen.

Jetzt, da wir nun schon alle beisammen sind, könnten wir vielleicht all die Fragen wie: „Wieviel Gemeinschaft soll es sein? Und wieviel Individuum? Wo sollten dem Individualismus Grenzen gesetzt werden? Und wann kippt der Gemeinsinn in einen freiheitsberaubenden Kollektivismus?“ gemeinsam erörtern.

 Seit tausenden Jahren wird über das rechte Verhältnis von Einzelnem und Gemeinschaft, Individuum und Kollektiv, Bürger und Staat, deren wechselseitiger Beeinflussung und die Rechtfertigung ihres Ausmaßes, insbesondere ihrer Begrenzung philosophiert.

Es gibt viele Beispiele, von denen ich nur einige erwähnen möchte:

Menschenrechte: Rechte regeln das Zusammenleben von Individuen in Gemeinschaft, nur hier gibt es überhaupt Regelungsbedarf. Sowohl die Beziehung der Individuen zueinander als auch die Beziehung des einzelnen Menschen zur Gemeinschaft müssen dauerhaft normiert werden.

Mit der Entdeckung des Individuums, seines Gewissens und seiner personalen Würde beginnt zugleich auch die Geschichte der Menschenrechte, an deren Ende ihre Kodifikation steht; „Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“, die am 10. Dezember 1948 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen beschlossen wurde. Rechte, die für alle Menschen gelten sollen. Sie sind lang erkämpfte Grundsätze, die fundamentale Freiheiten aller Menschen festlegen. Ihr Ziel ist es, die rechtliche Gleichbehandlung aller Menschen zu wahren. Das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit, Verbot von Sklaverei und Folter, Gedanken- und Glaubensfreiheit, Recht auf freie Meinungsäußerung, Bildung, Arbeit, Gesundheit und Wohlbefinden sind nur einige von ihnen.

            Recht auf Meinungsfreiheit: „Twitter-Trump“

Wir brauchen in liberalen Demokratien ein nachvollziehbares, transparentes und sinnvoll anfechtbares Sperr-Regime. Eine zuständige Instanz, die im Zweifel über den AGB der Medien-Plattformen steht. Um es noch etwas komplizierter zu machen, wäre das Idealszenario in autoritären Staaten und Diktaturen genau umgekehrt: Dort sollte der Staat im Zweifel zumindest in politischen Sphären nicht kontrollieren können, was zu veröffentlichen sei und was nicht. Wenn Trump gesperrt wird, müssen auch andere gegen die moralischen Rechte agierenden Personen gesperrt werden. Man muss sich in Politik und Wirtschaft trauen, die liberale Demokratie als überlegenes System zu betrachten (Sascha Lobo, Spiegel 13.01.2021).

Bürgerarbeit, lokale Währungen: Die Selbstorganisation der Gesellschaft: in Japan führten einige Gemeinden eine lokale Währung, ein Gemeindegeld, ein, die drei Ziele verfolgen, wie Ikuma Saga, Volkswirt des Japan Research Institute erklärt: „Erstens: die Beziehungen zwischen den Menschen einer bestimmten Gemeinschaft wiederzubeleben oder zu festigen, um das Sozialgefüge zu festigen. Zweitens: Projekte zu unterstützen, für die keine finanziellen Mittel in den Kommunen vorhanden sind. Dazu können Aufräumarbeiten, der Umwelt- und Naturschutz und Bereiche der Armen- und Altenpflege zählen. Also alles Vorhaben, die für das Leben in der Gemeinde wichtig sind. Das dritte Ziel eines Gemeindegeldes sind die Wiederbelebung lokaler Wirtschaftskreisläufe und die Förderung unternehmerischen Handelns.

Dieses Gemeindegeld wird von den Unternehmern einer Gemeinde für gemeinnützige Arbeiten an Arbeitslose, Obdachlose und ähnliche Gruppen von Bedürftigen ausgegeben. Dieses Gemeindegeld steht nicht in Konkurrenz mit dem Yen, da es nur in der jeweils ausgebenden Gemeinde verwendet werden kann, nicht im ganzen Land. Deshalb ermöglicht es in erster Linie nur den Konsum lokal produzierter Güter und Waren, was eben die lokalen Wirtschaftskreisläufe stützt und gegenüber einem Einkommen in der Landeswährung eine Einschränkung darstellt. (2008 von Sebastian Wienges)

Sparkassa: Anwendung und Auslegung des Gemeinwohlprinzips

Im ausgehenden 18. Jahrhundert erkannten einige sozial denkende Bürger die zunehmende Armut in den Städten als Problem der frühen industriellen Revolution. Daher gründeten sie die ersten Sparkassen, die mit der Förderung des Sparsinns und damit der Vermögensbildung der Bürger, sowie der Sicherstellung der kreditwirtschaftlichen Versorgung der Bevölkerung öffentlich beauftragt wurden. Hauptzweck der Sparkassenidee war also die Hilfe zur Selbsthilfe und die Förderung der Selbstverantwortung des Einzelnen. Noch heute unterscheiden sich Sparkassen von privaten Banken dadurch, dass die „Erzielung von Gewinnen nicht Hauptzweck des Geschäftsbetriebes“ ist, sondern die Verpflichtung zum Gemeinwohl. Dies ist in den Sparkassengesetzen  festgeschrieben. Heute kommen die Sparkassen ihrer Gemeinwohlverpflichtung zudem durch die Verwendung eines Teiles ihres Jahresüberschusses als Spenden für gemeinnützige, kulturelle, wissenschaftliche oder soziale Zwecke nach (Wikipedia „Gemeinwohl“). 

Sozialversicherungen (Unfall-, Kranken-, Pensionsversicherungen) entstanden im 19. Jhdt.

Tragik der Allmende (tragedy of the commons), Tragödie des Allgemeinguts bezeichnet ein sozialwissenschaftliches und evolutionstheoretisches Modell, nach dem frei verfügbare, aber begrenzte Ressourcen nicht effizient genutzt werden und durch Übernutzung bedroht sind, was auch die Nutzer selbst bedroht. Probleme sollten nicht mehr nur von einzelnen Individuen, sondern auch als Gemeinschaft betrachtet und gelöst werden (Wikipedia „Tragik der Allmende“).

Der freie Zugang zu landschaftlichen Schönheiten, Anspruch auf reine Luft

Die Argumentation, reiner Luft sei im Sinne des Gemeinwohls Priorität einzuräumen, konnte sich gegenüber wirtschaftlichen Interessen aber höchstens in touristisch geprägten Regionen mit starken alternativen Wirtschaftskonzepten durchsetzen.

Eigentums- und Verfügungsrechte werden zwar in Deutschland im Sinne einer „common pool resource“ meist mittels gesetzlich festgelegter Grenzwerte zu regeln versucht, das aber in der Praxis teilweise eher den Charakter eines ‚open-access-Gutes’ innehat. Die Strategie der Produzenten und ihrer Unterstützer lief dagegen darauf hinaus, Entstehung und Ausmaß negativer Externalitäten herunterzuspielen oder mit der parallelen Produktion von Gemeinwohlbelangen wie Arbeitsplätzen oder eines allgemein wünschenswerten Gutes (z.B. Elektrizität) zu kontrastieren (Ute Hasenöhrl; Zivilgesellschaft, Gemeinwohl und Kollektivgüter).

Leistbare Wohnungen: Mietpreisbremse (z.B. in Berlin)

Wer bestimmt eigentlich das öffentliche Interesse? Im eben zitierten Beschluss des deutschen Bundesverfassungsgerichts hieß es, der Gesetzgeber müsse die Freiheitssphäre des Einzelnen mit dem Wohl der Allgemeinheit zum Ausgleich bringen. Allerdings ist der Gesetzgeber dabei offenbar nicht frei, wenn er doch die Vorgaben des Grundgesetzes zu beachten hat. Bis zu einem gewissen Grad scheint das öffentliche Interesse also durch die Verfassung vorgeprägt zu sein. Außerdem stellt sich die Frage nach der „Gemeinwohlkompetenz“ von Exekutive und Rechtsprechung: In welchem Umfang dürfen Verwaltung und Gerichte bestimmen, was im öffentlichen Interesse liegt? (Robert Uerpmann-Wittzack, Univ. Regensburg)

Georg Wilhelm Friedrich Hegel meint:

In einer Diskussion vergraben sich oft beide Seiten in ihrer Position. Der Verstand neigt zum Entweder/Oder: Entweder Freiheit oder Determinismus, entweder Liberalismus oder Tyrannei. Die Dialektik macht erkennbar, dass die Dinge komplizierter sind. Keine Seite hat ganz recht, keine hat ganz unrecht. Das Versprechen der Dialektik ist Schritt für Schritt zur Wahrheit zu vorzustoßen.

Der wichtigste Beweger in der Geschichte der Menschheit ist die Freiheit: „Die Weltgeschichte ist der Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit“.

Einerseits bedeutet Freiheit, zu tun, was man will. Andererseits bedeutet Freiheit, zu tun, was für alle gut ist. Wer nur im Eigeninteresse handelt, ist nicht frei, er ist Sklave seines Egoismus. Aber Freiheit bedeutet auch nicht sich für die Allgemeinheit aufzuopfern, sie bedeutet nicht, dass der Wille des freien Menschen ununterscheidbar vom Allgemeinwohl wird.

Das ist wohl der Fehler so mancher Revolutionäre, die behaupten im Namen aller zu sprechen.

Hegel glaubte auch an die Kraft sozialer Institutionen, denn diskutieren alleine reicht nicht. Damit Ideen wirksam werden, brauchen sie Gebäude, Budgets, und Angestellte. Institutionen sind materialisierte Ideen. Statt weiterer Bekenntnisse zum Klimaschutz würde Hegel heute vielleicht eine weltweit handlungsfähige Klimabehörde fordern.

Somit wären wir auch bei unserer „Institution“.  Eine wesentliche Aufgabe der FM sollte meines Erachtens ebendieses Handeln, das Umsetzen der Ideen für ein individual-solidarisches Leben sein.

Niemand mag ein Schaf, jeder ein Held (Revolutionär, Andersdenkender) sein. Das Heldentum ist aber mit Vorsicht zu betrachten. Im »Faschismus ist Heroismus die Norm. Dieser Heroismus ist eng mit dem Kult des Todes verbunden… der urfaschistische Held… ersehnt den Heldentod“ (U. Eco). Natürlich nicht immer für sich selbst, manchmal sollen auch einfach andere sterben, aber so insgesamt darf es schon etwas mehr Tod und deshalb auch etwas mehr Krieg sein, »das Leben ist ein permanenter Krieg«.

Dies bedenkend, ist unsere Fähigkeit und unsere Stärke mit Vernunft und Erfahrung zu leiten mehr gefragt denn je.

Frage: Wie kommen wir FM zu den „richtigen“ Ideen?

Als Naturwissenschaftlerin wäre mein erster Zugang: Fragen wir die Experten!

Aber: Wissenschaftliche Experten sind diejenigen, die wissenschaftlichen Prozesse, Theorien und Forschungsergebnisse in eine allgemeinverständliche Sprache übersetzen und damit demokratische Überprüfung ermöglichen. Dafür muss ihnen vom Souverän Vertrauen entgegengebracht werden — Vertrauen in die Aufrichtigkeit ihrer Motive und Verlässlichkeit der Informationen, die sie weitergeben.

Leider gibt es manchmal Gründe, Skepsis gegenüber wissenschaftlichen Experten zu hegen, insbesondere, wenn ihnen besonderer Einfluss in Medien oder Politik zukommt. Wie andere Menschen auch, können sie sich irren und wichtige Fakten übersehen, sind schlecht darin, Vorhersagen zu machen und Evidenz, die ihren Ansichten oder Werten widerspricht, einzubeziehen, sie haben private Interessen und sind nicht immer finanziell unabhängig. Die COVID-19 Pandemie hat einmal mehr Beispiele für alle diese Schwächen hervorgebracht.

Die Wissenschaft nimmt einen bislang ungekannten Einfluss auf Gesellschaften: durch Medizin und Technologie, durch neuartige Untersuchungsmethoden wie die der Computersimulation (ohne die uns Klimawandel gänzlich unbekannt wäre), durch neue Theorien wie die Theorie der Verhaltensökonomik, durch die neuartige Politikansätze begründet werden. In liberalen Demokratien wünschen wir, solche Einflussnahmen demokratisch zu legitimieren, d.h. abhängig von der Zustimmung des Souveräns zu machen. Eine Voraussetzung für die Ausübung der demokratischen Kontrolle ist, dass die Regierung ausreichende Kenntnisse der relevanten wissenschaftlichen Zusammenhänge erhält, damit sie den Vorschlägen informiert zustimmen kann (Julian Reiss, JKU Linz).

Technisch-politische Entscheidungen müssen von der Politik getroffen werden, denn: die Politik ist demokratisch legitimiert und kann (durch Abwahl) zur Rechenschaft gezogen werden. Dennoch sind politische Entscheidungen weit von einem Ideal entfernt. Es bestehen Anreize kurzfristige und „sichtbare“ Folgen überzubetonen. Darum obliegt der Wissenschaft wie auch der Presse, den Medien die besondere Rolle, stets auf längerfristige und weniger sichtbare Folgen hinzuweisen, um somit dem Einzelnen, der Bevölkerung bessere Werkzeuge zur demokratischen Kontrolle zu geben. Die Aufgabe der Politik besteht darin, sich aus allen relevanten Expertisen ein Bild zu schmieden über die Handlungsalternativen und ihre Folgen, um eine optimale Entscheidung zu treffen.            Da niemand in der Wissenschaft Expertisen zu genau jeder speziellen Frage hat, kann die Politik gar nicht an Expertisen gebunden sein und es widerspräche auch demokratischen Grundsätzen, denn jede Stimme sollte gleichviel zählen, nicht die von einigen doppelt!

In der Pandemie haben wir auf der einen Seite gelernt, dass wir aus epidemiologischer Sicht am besten isolierte souveräne Individuen wären, die sich allein in ihre Höhlen zurückziehen. Jeder Mitmensch ist eine potenzielle Gefahr, räumliche Distanz daher die maßgebliche Sozialnorm der pandemischen Gesellschaft. Wir scheinen in unserer Entwicklung weit zurückgeworfen worden zu sein in eine Welt in der, der von einem »anthropologischen Misstrauen« beseelte Thomas Hobbes in seinem berühmten „Leviathan“ vor mehr als 350 Jahren die Notwendigkeit eines (letztlich autoritären) Staats begründet hatte, welcher der Vernunft der Menschen misstraut und sie daher vor ihren Mitgeschöpfen schützen muss. Seinerzeit waren die Mitmenschen als gewaltbereite Waffenträger eine Gefahr, heute als potenzielle Virenträger. Weil er die Fähigkeit hat, uns davor zu schützen, stellt man den Leviathan ggfs. auch von der Bindung an das Recht frei; das notwendige Vertrauen bezieht er paradoxerweise aus dem Misstrauen gegen den Menschen (Thorsten Kingreen, doi.org/10.1515/jura-2020-2602).

Gute und entschlossene Verwaltung kann Gesundheit schützen und Leben retten. »Alles, was der Mensch an Annehmlichkeiten kennt, ist aus der gegenseitigen Hilfe entsprungen. Nächst Gott gibt es nichts auf der Welt, was dem Menschen größeren Nutzen bringt als der Mensch selbst« (Hobbes). Staatlich verordnete Einsamkeit negiert die Sozialität des Menschen, der, gerade weil er soziales Wesen ist, Rücksicht auf seine Mitmenschen nimmt. Autoritäre Ideen und Maßnahmen fallen auf fruchtbaren Boden, sobald sich Menschen existentiellen Gefahren ausgesetzt sehen, deren Ausmaß ihre Vorstellungskraft übersteigt. In der Corona-Krise wird nicht nur hinter vorgehaltener Hand geraunt, autoritäre Regime, die nicht auf lästige demokratische Spielregeln Rücksicht nehmen müssen, kämen doch viel besser mit dem Virus zurecht als die zaudernden Rechtsstaaten. Besondere Anziehungskraft hat daher auch die Alarmvokabel des Ausnahmezustands, in dem die Regeln des Normalzustands um der Effektivität des Schutzes vor der Gefahr willen suspendiert sein müssen (Thorsten Kingreen, doi.org/10.1515/jura-2020-2602).

Frage: Aber was ist noch normal und was die Ausnahme; wer bestimmt darüber und über die dann irgendwie anderen Regeln?

Ein kleiner Exkurs in die Tierwelt: Was können wir von Ameisen lernen?

Sich trotz Fieber und Husten zur Arbeit zu schleppen ist nicht gesund für einen selbst und nicht für andere, die sich im schlimmsten Falle anstecken — das weiß spätestens seit 2020 jeder Mensch. Ameisen haben das seit 130 Millionen Jahren verinnerlicht; da lebten noch die Dinosaurier. Seitdem isolieren sie sich wenn sie krank sind. Und seitdem meiden die Ameisen im Außendienst, die einem höheren Infektionsrisiko ausgesetzt sind, den Kontakt zu ihren Kolleginnen im Innendienst, zur Brut und zur Königin. Wer heute durch einen Wald geht wird keinem Dinosaurier begegnen — Ameisen schon! Sie verstehen also etwas vom Überleben. Sie folgen einem ähnlichen Credo wie die Musketiere: Einer für alle, alle für die Kolonie.

Was für Tiere selbstverständlich ist, führt zu einer Erkenntnis, die in den letzten Monaten auch in den menschlichen Fokus geraten ist: Was alle tun hat Auswirkungen für mich — was ich mache (oder nicht) hat Auswirkungen auf alle. Individuelles Verhalten hat kollektive Konsequenzen.

Der Ansatz des zweckorientierten Denkens kommt dem Bereich Public Health sehr nahe. Die Daten, auf die man sich bei der Abwägung von Nutzen, Schaden und Kosten bestimmter Maßnahmen (z.B. in der aktuellen Krisensituation) beruft, stammen in der Regel aus epidemiologischen, ökonomischen und wissenschaftlichen Studien. Ein problematischer Aspekt des Utilitarismus ist, dass hier nur das Wohlergehen der Mehrheit berücksichtigt wird, wodurch das Wohlergehen des Individuums vernachlässigt wird (vgl. Eggert et al. 2017). Drastische Maßnahmen sind nämlich nicht grundsätzlich abzulehnen. Sie dürfen in Extremsituationen gegeneinander abgewogen werden und die Entscheidung für oder gegen eine Maßnahme muss für den Menschen positiv ausfallen, indem sie dem Prinzip der Nützlichkeit am meisten entspricht. Wie umfangreich und schwierig es ist, diese „Nützlichkeit“ zu definieren, wird bei der Betrachtung folgenden Beispiels ersichtlich:

Angenommen die Reproduktionsrate des Virus in Österreich steigt wieder an. Es müssen nun verschärfte Maßnahmen ergriffen werden, die noch stärker in die individuelle Freiheit der Menschen eingreifen als die aktuellen Einschränkungen. Auf der anderen Seite ist diese Maßnahme Voraussetzung für eine Entlastung des Gesundheitssystems und damit für die Sicherung der medizinischen Kapazitäten für COVID-19-PatientInnen.

Welches Vorgehen ist in diesem Fall „nützlicher“? Die Weiterführung der gelockerten Maßnahmen oder die verstärkten Maßnahmen zur Einschränkung jeglicher individueller Freiheiten?

Es wird deutlich, dass allein die Begriffe „Glück“ und „Nützlichkeit“ sehr unterschiedlich ausgelegt werden können. Auch ist ersichtlich, dass je größer die Anzahl an Informationen über die Gesellschaft ist, die Abwägungen umso komplizierter werden, wird das Einbeziehen aller Informationen vorausgesetzt.

Der Kontext, in dem sich das beschriebene ethische Dilemma während der Corona-Krise befindet, ist die Public Health-Ethik. Denn im Gegensatz zu einer Ethik im Gesundheitswesen in der Individualmedizin geht es primär um das Ziel, mit Blick auf die gesamte Bevölkerung sowie auf einzelne bestimmte Bevölkerungsgruppen, die ethisch vertretbaren Maßnahmen der Prävention einer COVID-19-Infektion und der Versorgung zu definieren (vgl. Egger et al. 2017).

Die eigene Befindlichkeit als Maßstab für die Gesellschaft

Interessant dabei ist ja, dass das Hohelied des Individuums heute quer über das politische und gesellschaftliche Spektrum hinweg gesungen wird – von linken Esoterikern bis hin zu wirtschaftsliberalen Denkern und Politikern. Letztere wissen ja schon seit Adam Smith, dass jeder seines eigenen Glückes Schmied ist und die egoistische Verfolgung der eigenen Ziele immer auch segensreich für die Gesellschaft als Ganzes wirkt. In den letzten Jahren haben die sozialen Medien wie ein Brandbeschleuniger für die um sich greifende Ich-Gesellschaft gewirkt. Selbstoptimierung und die öffentliche Darstellung des optimierten Selbst ist nicht nur Sache von Social-Media-Stars. Wir alle sind heute Influencer. Außerdem haben wir uns durch Facebook, Instagram und Twitter angewöhnt, unsere persönlichen Befindlichkeiten zum Maßstab dafür zu machen, was in einer Gesellschaft gedacht, gesagt und getan werden soll – und uns in Filterblasen eingeschlossen, in denen unser persönliches Weltbild bitteschön nicht mehr in Frage gestellt wird (Christoph Elsenschink; 18.03.2020).

Wir brauchen Fakten und evidenzbasierte Informationen, die von den Medien neutral und verständlich an die Bürger weitergegeben werden, damit diese eine Entscheidung treffen können um nicht blind wie Schafe einer Autorität folgen zu müssen, sondern als „Held-in“ freiwillig solidarisch handeln.

Der Aufklärer Immanuel Kant gründete seine Philosophie auf vier Fragen. Zwei davon lauteten: Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Nun: Denkt jetzt weniger an euch und hofft darauf, dass das so bleibt, wenn das Coronavirus einmal Geschichte sein wird.

Thomas von Aquin meint dazu „Es ist unmöglich, dass ein Mensch gut sei, außer er stehe im rechten Bezug zum gemeinen Wohl“.