Kein Schritt zurück

N dia. Ta bom?

Ta bom! Ta bom?

Ta bom! Calor!

Ajang, calor cheo.

Cheo calor!

            Nundi bu sa ta bai?

N sta bei pa porto riba

            Porto riba, ajang. Ti mas logo.

Ti mas logo.

Auf meinem täglichen Weg zur Arbeit, war das die die Begrüßung meines Nachbarn Senhor Tiof. Vor vielen Jahren, als ich in einem kapverdischen Dorf gelebt habe. In einer noch vormodernen Zeit vor dem Autoverkehr, vor Telefon, vor Fernsehen, natürlich auch vor dem Internet und der Vernetzung mit der Welt. Die Begrüßung hat sich jedes Mal so abgespielt, mehr oder minder gleich, jeden Tag.

Heute geht es um den Lehrlingsschritt. Die Auswahl des Themas für dieses Baustück war gar nicht so leicht. Warum Lehrlingsschritt und nicht Zirkel, Winkelmaß oder Bibel? Vielleicht weil mir Bewegung und Tanz näher liegen als handwerkliches Arbeiten…

In diesem Lehrlingsbaustück werde ich versuchen,

  • meine kurzen Erfahrungen mit dem Lehrlingsschritt darzustellen,
  • darüber zu sprechen, wo ich in meinem Leben ähnliche Erfahrungen gemacht habe
  • allgemein über Rituale zu reflektieren
  • meine gewonnene Erkenntnis darstellen, warum es immer einen Schritt zurück gibt, in der physischen Welt, aber keinen, wenn wir Richtung Osten schauen

Die Menschen des Dorfes so zu begrüßen, sich einzulassen auf die lokalen Gebräuche waren meine Eintrittskarte in die Gemeinschaft der Bewohner und Bewohnerinnen des Dorfes.

Dieses Begrüßungsritual war keine kultische Handlung. Aber es war der Übertritt von der Umgebung meines Hauses in eine andere Welt, in die Welt des Dorfes, die es schon seit Jahrhunderten gab und die sich in diesem Zeitraum wahrscheinlich gar nicht so sehr verändert hat, und wenn, dann in sehr kontinuierlichen Bewegungen, immer im Rhythmus der klimatischen Bedingungen, also aufeinander folgenden Trocken- und Regenzeiten.

Damals hatte ich das sehr gerne gemacht, war offen genug, mit 25 Jahren, habe die Sprache relativ schnell gesprochen. Den Schritt zurück habe ich erst nach zweieinhalb Jahren gesetzt.

Der Lehrlingsschritt ist für uns Teil des Rituals zum Eintritt in den Tempel unserer Loge. Die Assoziation mit dem Begrüßungsritual in Kap Verde war für mich sofort da. Bei beiden geht es um den Eintritt bzw. Übertritt in eine andere „Welt“.

Zweimal stolpernd, bevor man einen dritten – „richtigen“ – Schritt macht.

Oder genauer: Den linken Fuß gegen Osten gerichtet, den rechten im rechten Winkel dazugesetzt. Jeweils mit dem linken Fuß beginnend, den rechten nachziehend. Drei Schritte, zwei kurze, ein langer.

Den Schritt als Relikt kultischer Handlungen zu sehen, unterliegt unterschiedlichen Interpretationen. Eine besagt, dass die zwei kurzen Schritte den Eifer der Lehrlinge versinnbildlichen, der lange die Ausdauer (Felsenstein).[1] Genau wie beim Lehrlingsschlag, der im selben Rhythmus ausgeführt wird. [2]

Wir tun das „im Zeichen“, die rechte Hand flach mit abgespreiztem Daumen, knapp an der Kehle. Das verstärkt die Wirkung des Lehrlingsschritts, denn die Bedeutung soll ja darin liegen, dass wir uns eher die Kehle durchschneiden lassen, als dass wir unsere Geheimnisse verraten.

Eine andere Interpretation greift zurück auf das Alte Testament oder die griechische Mythologie.

Früher wurde das Ritual mit nur einem Schuh ausgeführt, also mit ungleich langen Beinen. Das Hinken sollte die Unvollkommenheit symbolisieren. Eine Unvollkommenheit, die jedem menschlichen Tun innewohnt.

Die Freimaurer beziehen ihre Geschichte und Symbolik vor allem auf die Bauwerkskunst. Trotzdem ist der Hauptpasswortgeber Tubal Kain, der aus dem Alten Testament überlieferte Sohn Kains. Dieser hat aber nicht das Baumeistertum erfunden, sondern die Schmiedekunst.

Und der Schmied, der der mit dem Feuer hantiert, wird quer durch viele Kulturkreise als hinkend und außenseiterhaft dargestellt. Das hat wohl viel mit dem Feuer zu tun, mit dem er hantiert, und dessen „wackeliger und flammiger Natur“.

Freimaurer sind auch „Lichtgläubige und Lichtsuchende“ (Schauberg). Beim Eintritt zur Arbeit schreiten wir im Lehrlingsschritt mit vorwärts gerichtetem Blick auf den MvSt, dem Sitz der Weisheit. Die eigentliche Arbeit beginnen wir dann mit dem Anzünden und Auslöschen der drei kleinen und drei großen Lichter. Das Leuchten des physischen Lichts symbolisiert die Erkenntnis oder das große Wahre, das wir suchen. Oder wie wir heute als von Karl Popper Geschulte sagen würden, die immer größere „Wahrheitsnähe“, die wir anstreben. In diesem Sinn glauben wir an das ewige Licht und die ewige Suche danach. 

In der Geschichte der Menschheit wurde das Feuerwesen – also die Suche nach der Erkenntnis – von der herrschenden Schicht nur zu oft verteufelt. Wie auch die Freimaurer. Was natürlich zusammenhängt. Denn jede Herrschaft beruht auf Annahmen und Dogmen. Die Erleuchter – oder Bewusstseinsvermehrer – sind immer die, die diese in Frage stellen und die die Dunkelheit, also einen früheren unbewussten Zustand, in neues Licht rücken.[3]

Zurück zur konkreten Welt unseres Tuns.

Ich erinnere mich. Bei meiner zweiten Arbeit, ich stand als Erster an der Schwelle zum Tempel. Die Tür ging auf und ich habe angesetzt zum Schritt. – Bloß, plötzlich, ich wusste nicht mehr wie! Ich hatte mich ganz darauf verlassen, dass es beim ersten Mal so gut geklappt hatte. Jetzt aber stand ich alleine da, ohne Impetus, ohne zu wissen wie. Ich habe nicht hineingefunden in die Choreographie, den Rhythmus, den eingeübten Ablauf, der es uns leicht macht, die Schwelle zu überschreiten. – Sekunden, die zur Ewigkeit wurden, der Wunsch, die Peinlichkeit ginge doch schnell zu Ende.

Der von uns ausgeführte Lehrlingsschritt ist die Zäsur, die den Unterschied zwischen unserer Alltagswelt und unserer Arbeit im Tempel darstellt. Jeder tut den Schritt allein, in immer gleicher Weise. Einmal begonnen, gibt es kein Zurück mehr. – Kein Zufall, dass ein Schritt zurück nicht Teil der Choreographie ist. – Die automatisierte Abfolge hilft uns, den Takt für die darauffolgende Arbeit zu finden. Wie beim Tanzen, der Rhythmus ist die Basis dafür, kreativ zu sein, uns ausdrücken zu können.

Für mich ist es als Lehrling interessant und schön nochmals die Möglichkeit zu bekommen, in eine neue Welt der Zeichen und Symbole einzutreten und explizit darüber zu reflektieren.

Mit über 60 Jahren habe ich auch schon einige Schwellen immer und immer wieder überschritten, um einzutauchen in andere Welten.

  • In den Jahren meines Studentenseins in die Welt der Aktivisten der Lokal-, Friedens- und Umweltpolitik
    Der Strickpullover und die Schlapfen waren damals die Zeichen der Abgrenzung nach außen.
  • In die vorhin erwähnte Welt eines westafrikanischen Dorfs – mit all seinem vormodernen Umgangs der Menschen untereinander
  • In die Welt der Manager/innen und Unternehmer/innen, als ich knapp 10 Jahre ein Produktionsunternehmen leitete: Die nuancierten Business-Kleidungsvorschriften einzelner Branchen sind Legende, brauche ich hier nicht aufzuzählen. Die Marke des Firmenwagens von strenger Hierarchie getragen – damals begann der Aufstieg mit einem VW Passat, dann kam der Audi und schließlich – nur wenn es sehr gut lief  – der BMW.
  • In die Welt der Managementberater, in der es gruppenweise besonders viele ritualisierte Handlungen gibt. Man denke an die systemischen Berater oder zumindest an die Berater im systemischen Management, denen ich angehörte.
  • In die Welt der Autoren und Vortragenden, wo ich viel zu spät gelernt habe, dass man sich mit dem Publikum niemals vermischen darf.
  • Und wie jeder von uns auch, in manch andere kleinere Welten, in die einer Modern Dance Gruppe, eines Elternvereins, einer Kaffeehausrunde, einer Bergsteigergruppe, u. Ä.

Jetzt will ich das alles nicht direkt mit der Arbeit unserer Loge vergleichen, aber alle diese Welten haben immer wieder eines gemeinsam:

Um als Einzelner dabei zu sein, erfordern sie fortwährend und immer wieder diesen Schritt hinein, dieses Überschreiten einer Schwelle.

Ritualisierte Abfolgen oder das Aufzeigen von Gemeinsamkeiten erleichtern uns dabei das Hineintauchen in diese Welten. Was früher wohl religiös-kultische Akte waren, sind heute kleinere, subtilere Handlungsweisen, Haltungen, Zeichen.

Der Lehrlingsschritt – wie überhaupt die ritualisierte Arbeit – ist bei uns hier ein bewusst formalisierter Prozess. Das macht wahrscheinlich auch einen großen Unterschied. Wir bewahren uns eine Struktur, die uns einen Rahmen für unser Denken gibt. Und wir reflektieren auch gerne darüber

So wie der Lehrlingsschritt vorwärts weist, zeigt er uns den Weg hinein in die „Gemeinschaft“, fördert den Zusammenhalt. Rückwärts wirken Rituale immer bremsend und tragen auch dazu bei, Gemeinschaften vor einem Zerfall zu bewahren.

Trotzdem, wenn ich zurückblicke in meinem Leben, auf die Abfolge der Zugehörigkeiten, des Mittuns, des gemeinsamen Erlebens, immer wieder bin ich ausgetreten aus Gemeinschaften und habe mich neuen Dingen, Menschen und anderen Gemeinschaften zugewandt.

  • Nach der politischen Zeit kam Afrika. Das war abrupt, aber in der Abfolge der Ereignisse auch logisch. Eine Herausforderung ist der anderen gefolgt.
  • Nach der Möbelproduktion kam wieder Afrika. Das war nicht logisch, zumindest nicht von den Verdienstmöglichkeiten.
  • Die Managementberatung kam in Afrika und hat mich dann in den DACH- Raum zurück geführt.
  • Dann kam aber wieder Afrika, mit wieder andere Ländern, anderen Themen.


Mit dem Wissen von heute stelle ich fest: Den Schritt zurück habe ich selten gescheut. Warum? Das ist für mich nicht einfach zu erklären.

Weil ich unzufrieden war? Weil ich etwas anderes wollte? Ideen hatte, die ich nicht umsetzen konnte?

Hier lerne ich, dass die Welt der Handwerker, also die Welt des Tuns, immer eine unvollkommene ist.

Vielleicht liegt darin ein Teil der Erklärung, eine feine Unterscheidung.

Die Welt des Tuns ist grundlegend anders als die Welt des Feuers, also die Welt der Ideen und Erkenntnisse.

In der Welt der Ideen gibt es keine Schritte zurück. Das liegt in der Natur des Immateriellen.

– Gedanken, Ideen, Erkenntnisse in die Welt gesetzt, lassen sich nicht mehr zurücknehmen. Einmal vorgebracht, führen sie ihr Eigenleben und schreiten ganz automatisch weiter voran.     


[1] Vgl. Jürgen Felsenstein, Grundlagen der Ritualreform, in: 60 Jahre unabhängige Freimaurerloge Wien, Festschrift 1955-2015, S 67

[2] Hans Fischer, Schau in dich – Instruktionen für Lehrlinge, 2015, S 53

[3] Vgl Heinz Sichrovsky, Ein Bruderkampf um Troja – Die griechische Götterwelt im Ritual der Freimaurer, Sudienverlag, 2018, S 37ff